Montag, 11. November 2019

Das letzte Abendma(h)l

Ich bin eine große Verfechterin des Familienessens. Ich finde es wichtig und schön, wenn abends alle gemeinsam an einem Tisch sitzen, um sich zu unterhalten und vom Tag zu erzählen. Ihr wisst schon, so schön Klischee: Reich mir mal das Salz, mein Schatz, wie war dein Tag? Gut Mama, und was hast du wieder für ein köstliches Essen für uns alle gekocht!

Zur Zeit bedienen wir allerdings allabendlich ein ganz anderes Klischee. Jeden Abend wird geweint, gebrüllt und geschimpft, bis die Nerven blank liegen. Reich mir doch mal den Wein, mein Schatz, ich muss mir jetzt diese verzogenen Gören schön saufen …

Dabei erwarte ich meiner Meinung nach nicht viel von meinen Kindern. Ich weiß, dass es für Jungs in einem gewissen Alter nichts Langweiligeres gibt, als an einem Tisch zu sitzen und etwas zu essen, das nicht schon beim bloßen Anblick Karies verursacht. Und ich mute ihnen auch nicht zu, sich in einem Restaurant stundenlang brav und artig zu benehmen (überhaupt seit mein Großer beim letzten Gasthausbesuch den armen Pensionisten mit Augenklappe am Nebentisch gefragt hat, wo denn sein Piratenholzbein sei …). Aber im Pyjama gemütlich zu Hause am Esstisch zu sitzen und etwas Leckeres von Mama Gekochtes zu essen, ist doch nicht zu viel verlangt, oder???

Scheinbar aber doch. Das Drama nimmt nämlich schon seinen Lauf, wenn das Essen noch gar nicht am Tisch steht. „Jungs, in 5 Minuten gibt’s Essen, räumt ihr dann mal langsam zusammen?“ Spätestens jetzt brechen Protestgeheul und Hysterie aus. Denn obwohl ich sie seit einer halben Stunde im Sekundentakt vorwarne, dass es jetzt dann aber wirklich bald Essen gibt, fühlen sie sich jedes Mal hinterrücks überrumpelt und völlig außer Stande, ihr explosionsartig über das gesamte Wohnzimmer verteiltes Spielzeug zu verlassen. „Aber ich hab doch GRAD erst angefangen mit dem Superhelden-Detektiv-Echsen-Einsatz!“, „IMMER muss ich abendessen, NIE darf ich spielen!“ … Jo, genau.
„IMMER muss ich abendessen, NIE darf ich spielen!“

Habe ich die beiden dann doch dazu gebracht, dass sie sich tödlich beleidigt an den Tisch setzen, folgt unweigerlich der 2. Akt: Blick auf den Teller und alle gemeinsam: „Wäääh! Ich mag das nicht!“. Egal, was ich koche, es passt einfach nie. Und Gnade mir Gott, wenn auch nur ein Nanomillimeter Gemüse dabei sein sollte. Selbst, wenn ich ihre Lieblingsspeise koche, ist die ganz plötzlich an diesem Tag „voll eklig“.

Es ist für mich denkbar schwer, genau jene Kombination zu erraten, die an diesem Tag genehm gewesen wäre. Während der eine brüllt, dass er das sicher nicht essen werde und wenn, dann nur das Püree, beschwert sich der andere darüber, dass er aber nur Schnitzel mag. Und ob ich nicht gesehen hätte, dass das Ketchup genau auf einem Millimeter Fläche schon sein Fleisch berührt!

Mittlerweile habe ich an diesem Punkt resigniert. Soll der Kleine doch nur einen mannshohen Haufen Püree essen und dem Großen tupfe ich das Ketchup feinsäuberlich vom Schnitzel, obwohl er es drei Sekunden später dort selbst wieder eintaucht – mir doch alles egal.

Aber, Herr im Himmel, auch das ist nicht genug. Kaum sieht der Kleine seinen Püreeteller, fängt er herzzerreißend zu weinen an, weil ich doch GENAU weiß, dass er gar kein Püree mag! Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit bewegt ihn dazu, seinen TrippTrapp-Stuhl fluchtartig zu verlassen und sich brüllend unterm Esstisch zu wälzen. Währenddessen schüttet der Große wie jeden Abend sein Glas um, versucht, aus seinem Schnitzel eine Transformer-Burg zu bauen und bohrt gleichzeitig in der Nase.

Ich versuche, die Ruhe zu bewahren und ausnahmsweise nicht zu schimpfen. Wenn der Kleine nichts essen will, werde ich ihn nicht zwingen. Ich schiebe das brüllende Bündel unterm Tisch mit dem Fuß ein bisschen zur Seite, wische oben das zweite Glas Saft auf und schaue meinem Großen dabei zu, wie er mit der Gabel in der Hand aus dem Fenster schaut, Laternenlieder singt, sich das Ketchup in den Pyjama schmiert und das Schnitzel, das er vorher so unbedingt essen wollte, unberührt liegen lässt. Darauf angesprochen meint er, dass er doch gesagt habe, er esse heute sicher nur Püree. Schwer um Fassung ringend schaufle ich ihm also das Püree vom Teller des Kleinen auf seinen Teller.

Sobald der Große dann tatsächlich das gesamte Püree gegessen hat, ist das das Stichwort für den Kleinen, plötzlich wieder aus der Versenkung aufzutauchen und vehement nach seinem „PÜREE!!!“ zu verlangen. Als er bemerkt, dass dieses in der Zwischenzeit sein großer Bruder aufgegessen hat, eskaliert die Situation. Der Kleine brüllt, weil er doch sooo Hunger auf Püree hat, der Große weint, weil er jetzt draufkommt, dass er gerade etwas gegessen hat, das „sicher schon der Nico angeschlazt hat“ und Mama verliert endgültig die Nerven.

„KANN ICH BITTE EINFACH NUR MAL EINE MINUTE IN RUHE ESSEN!!!!“. Die Kinder schauen mich verständnislos an. Gerade so, als könnten sie nicht verstehen, warum die Mama das idyllische Familienabendessen immer so unhöflich stören muss. An diesem Punkt sind beide Kinder so eingeschüchtert, dass sie mit etwa 30-minütiger Verspätung endlich beginnen, doch zu essen. Das bedeutet für mich, dass ich ab jetzt im Minutentakt in die Küche laufe, um mehr Ketchup/noch Püree/eine andere Gabel/100 Blätter Küchenrolle zu holen, während mein eigenes Essen kalt wird. In den letzten 2 Minuten stopfe ich mir noch schnell alles hinein, was auf meinem Teller liegt und denke mir: Das war jetzt das letzte Ma(h)l, morgen esse ich fix erst, wenn die Kinder im Bett sind. Bis mir einfällt, dass mein Essen dann genauso kalt wird, weil dann alle 2 Minuten einer aufs Klo muss/unbedingt was trinken will/seinen Polster nicht mehr findet …