Dienstag, 9. November 2021

Warum Notlügen vielleicht nicht immer die beste Idee sind

Ich geb's zu: In vielen Dingen bin ich beratungsresistent. Ich mag es nicht, wenn man mir sagt, wie ich etwas zu tun habe und denke oft, dass ich es schon selber besser weiß – auch wenn das bei Weitem nicht immer stimmt.

Wenn es um meine Kinder geht, bin ich zumindest ein kleines bisschen weniger stur. Vor allem in Phasen der Verzweiflung linse ich manchmal verstohlen zu den anderen Supermamas hinüber und schaue, wie die das denn alles so machen.

Ganz schnell landet man in solchen Phasen auch bei pädagogisch wertvollen Internetforen und Selbsthilfebüchern. Dass die weisen Tipps dieser Art nicht immer etwas für mich sind, stellte ich bereits fest, als mein Großer mit zwei Jahren den Höhepunkt der Trotzphase erreicht hatte und mir regelmäßig auf der Straße, im Supermarkt und auf dem Küchenboden ein ausuferndes Drama in drei Akten präsentierte.

Genau zu dieser Zeit empfahl mir eine andere Mama das "Wutmonster". Man solle dem Kind in solchen Phasen erklären, dass das Wutmonster im Bauch einfach gerade überhandgenommen hat und man es jetzt gemeinsam in den Keller sperren wird.

Voller Motivation probierte ich diese Erziehungsweisheit beim nächsten Wutausbruch meines Zweijährigen aus, der auch nicht lange auf sich warten ließ. Das Ergebnis: Das Kind lief hysterisch weinend durch das Haus und krallte sich dabei panisch an seinem Bauch fest, weil es da kein Monster drin haben wollte. Erziehungsversuch: Fail.

Nachdem sich das verstörte Kind endlich beruhigt und ich ihm versichert hatte, dass nicht gleich ein Alien aus seinem Bauchnabel hüpfen würde, war endlich wieder Ruhe. So lange, bis der Knirps mit geweiteten Augen meinen schwangeren Bauch anstarrte und wieder zu brüllen begann, dass bei der Mama das Wutmonster schon so riesig sei, dass es sicher gleich rausplatzen und uns alle fressen würde …

Nachdem das Wort "Wutmonster" ab da bei uns tunlichst vermieden wurde und aus Mamas Bauch wenig später auch kein Monster, sondern ein kleiner Bruder kam, konnte wenigstens dieses Trauma erfolgreich abgewendet werden.

Ein Erziehungstipp, an dem ich dagegen heute noch arbeite, ist der, dass man seine Kinder nicht mit Lügen, Drohungen und Bestechungen erziehen soll. Grundsätzlich leuchtet mir das durchaus ein. Nur: In der Praxis ist dieser Vorsatz halt leider oft schwer umzusetzen.

Oder habt ihr etwa noch nie versucht, eure Kindergartenkinder mit einer klitzekleinen Notlüge zu überzeugen? Ihnen ganz ehrlich noch nie gesagt, dass der Spielplatz gerade "leider zu hat" oder der münzenfressende Spielzeugbagger im Zoo partout heute "kaputt ist"? Dann ziehe ich meinen nicht vorhandenen Hut vor euch!

Ich kann euch allerdings sagen, dass sich diese "Erziehungsform" ohnehin schnell aufhört, wenn die Kleinen lesen lernen. Gerade noch verkündet man ihnen an einem kalten Regentag voller Überzeugung, dass das Eisgeschäft heute leider Gottes geschlossen hat und man da gar nichts machen kann, schon kommt es vom stolzen Erstklässler: "Mama, da steht aber 'geöffnet'!" Verdammt.

Auch mit dem Droh- und Bestechungssystem gerate ich regelmäßig an meine Grenzen. Versteht mich nicht falsch, ich finde das ja selbst ganz schrecklich, wenn ich meinem Kind verspreche, dass es ein extragroßes Sackerl Gummibärli bekommt, wenn es bei der Trauung der besten Freundin in der Kirche nur noch FÜNF MINUTEN stillsitzt. Oder ihm androhe, dass es heute sicher kein Fernsehen mehr gibt, wenn jetzt nicht augenblicklich die Hausübung erledigt wird. Meinen persönlichen Tiefpunkt hatte ich in der Hinsicht, als ich mich an einem besonders schlimmen Tag tatsächlich selbst sagen hörte, dass ich jetzt dann gleich "das Christkind anrufen und ihm sagen würde, dass es die ganzen Geschenke doch nicht bringen soll", wenn meine Jungs nicht sofort damit aufhörten, wie Irre durchs Haus zu wüten ...

Abgesehen davon, dass man sich bei den ewigen Drohungen eher jämmerlich und hilflos vorkommt als pädagogisch wertvoll, kann diese Form der Erziehung auch ganz schnell nach hinten losgehen. Es werfe derjenige den ersten Stein, der sich nicht schon mal im Nachhinein grün und blau geärgert hat, dass er die Drohung mit dem Fernsehverbot tatsächlich durchgezogen hat. Denn eigentlich wolltest du in den 20 Minuten, die die Kinder sonst hätten fernsehen dürfen, doch in Ruhe das Abendessen kochen, oder nicht?

Abgesehen davon ist das Drohsystem mit einigen Kindern einfach zum Scheitern verurteilt. Vorhang auf für meinen jüngeren Sohn! Zu Weihnachten hatte der damals Dreijährige vom Christkind (das ich dann doch nicht angerufen hatte) einen supertollen knallroten Lego-Koffer bekommen. Der Inhalt desselbigen lag einige Tage später trotz mehrmaliger Aufforderung zum Aufräumen immer noch quer über den Wohnzimmerboden verstreut.

Also griff ich wieder mal zu einer Drohung: "Wenn du den Koffer nicht zusammenräumst, dann schmeiß ich ihn weg!" Antwort Sohn: "Ok." Jetzt stand ich also da und musste meinen Worten Taten folgen lassen. Verzweifelt versuchte ich es noch mit "Aber der ist dann wirklich weg, gell!" und "Ich würde mir schon überlegen, ob ich den jetzt nicht noch schnell aufräume, wir können ja zusammenhelfen!" … alles ohne Erfolg.

Also packte ich den Koffer selbst zusammen und ließ ihn demonstrativ in den Sack mit dem Plastikmüll plumpsen (was mein Sohn mit einem lässigen Schulterzucken quittierte und einem Gesichtsausdruck, den man vielleicht als "Ach, was soll man machen, die materiellen Dinge im Leben werden sowieso überbewertet" hätte deuten können.)

Bis zum Schlafengehen änderte sich auch nichts an seinem Fatalismus. Keine Tränen, kein "Oh Mama, du hattest Recht, es tut mir so leid!", offenbar kein zweiter Gedanke an seinen nagelneuen Lego-Koffer.

Na gut, dachte ich mir – morgen wird er seinen Fehler schon bereuen. Nachdem mein Sohn im Bett war, holte ich zwischen leeren Joghurtbechern und Erdbeerschälchen den Koffer wieder aus dem Plastikmüll und stellte ihn in den Abstellraum – griffbereit für seinen großen Auftritt, wenn ich endlich sagen könnte: "Na gut, weil du dich jetzt so entschuldigt hast und ich so eine nette Mama bin, kannst du diesen superduper Lego-Koffer, für den ich übrigens 70 Euro bezahlt habe, jetzt doch wieder haben."

Nur leider trat dieser Moment auch am nächsten Tag nicht ein. Selbst nach subtilen Hinweisen meinerseits wie "Also wenn du heute wirklich brav bist, könnte ich ja schauen, ob ich den Koffer nochmal aus der Mülltonne holen kann" oder "Willst du denn heute nicht wieder so toll Lego bauen?" blieb mein Dreijähriger pragmatisch: "Ach nein, den hast du ja sowieso weggeschmissen, Mama." Tja.

Selbst eine Woche später blieb er felsenfest bei seiner Meinung – und ich kam mir jeden Tag lächerlicher vor bei den Versuchen, ihm den teuer erworbenen Koffer wieder anzudrehen. Etwa zwei Wochen später gab einer von uns auf – und es war nicht der Dreijährige. Beschämt und zähneknirschend holte ich den Koffer aus dem Abstellraum und erklärte meinem Sohn, dass ich ihn unter größter Gefahr extra für ihn in Siggerwiesen aus der Müllpresse geholt hätte, weil ich ihn so lieb habe (meinen Sohn, nicht den Legokoffer). Er sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank, nahm würdevoll seinen Koffer entgegen und baute ohne weitere Verzögerung eine Lego-Feuerwehrstation.

Seitdem überlege ich mir zweimal, ob ich meinen Kindern drohe. Außerdem bin ich zu einer Einsicht gelangt, die ich vielleicht mal in meinem eigenen Erziehungsratgeber groß präsentieren werde: Kindererziehung kommt nicht aus Ratgeberbüchern – die Kinder erziehen einen schon selbst.