Schade eigentlich, dass ich offensichtlich die einzige bin, die es bisher noch nicht gefunden hat. Jenes 80-bändige Nachschlagewerk, das alle anderen im Regal stehen zu haben scheinen und in dem man die absolute Babywahrheit von A wie Anziehen bis Z wie Zahnen findet. Wie sonst könnte es sein, dass alle anderen immer ganz genau zu wissen scheinen, was meinem Kind gerade fehlt?
Beim Spazierengehen bleiben die Leute stehen und beglotzen mein weinendes Baby im Kinderwagen, weil sie mir unbedingt mitteilen müssen, dass es bestimmt Hunger hat. Ah, danke, na da hätt ich aber auch selbst drauf kommen können – deshalb schreit es also seit 3 Tagen! Auch am öffentlichen Parkplatz ist man nicht vor der allwissenden Babymacht sicher.
Während ich eigentlich nur mein Parkticket entwerten möchte, informiert mich ungefragt die Frau Kassiererin nach einem geschulten Blick auf mein quengelndes Kind: „Ah, da ist jemand müde!“ – „Ja, und zwar verdammt noch mal ICH!“, möchte ich ihr entgegenschreien, tue es aber nicht. Ich erkläre ihr auch nicht, dass das Kind mit ziemlicher Sicherheit gerade nicht müde ist, weil es eben zwei Stunden geschlafen hat. Ich nehme nur mein Wechselgeld, lächle gequält und murmle irgendetwas halb Zustimmendes.
Meistens raubt es mir einfach zu viel Energie, mit solchen Leuten eine Diskussion zu beginnen. Ein besonders penetrantes Individuum brachte mich letztens aber so dermaßen zur Weißglut, dass ich ihr mitten am Spielplatz mit hochrotem Kopf und zu Berge stehenden Haaren meine Meinung geigte.
Zugetragen hat sich diese schöne Anekdote bei einem meiner ersten Ausflüge in den Park mit zwei Kindern. Nico war gerade mal ein paar Wochen alt und verbrachte den Großteil seines Tages entweder mit Schlafen oder Schreien. Leider hatte er sich für den Spielplatzbesuch gerade Hobby Nr. 2 ausgesucht und brüllte, was seine kleine Lunge hergab. Ich tigerte also im beruhigenden Wippschritt durch die Wiese und machte dabei „Schschsch“, während ich gleichzeitig versuchte, Noah davon abzuhalten, sich vom Klettergerüst zu stürzen. Plötzlich näherte sich uns eine alte Dame mit einem Hündchen Marke Bodenwurst. Einige Meter von uns entfernt blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte mich an. Nach ein paar Minuten wurde mir das unangenehm und ich wippte ein paar Meter weiter. Unbeirrt zog die alte Dame ihr Hündchen hinter sich her und stellte sich wieder direkt neben mich. Nachdem ihre tadelnden Blicke offenbar bei mir nicht fruchteten, musste sie einen Gang höher schalten. „Stillen Sie?“, wollte sie von mir wissen.
Anstatt mich zu fragen, was diese wildfremde Frau das überhaupt anging, informierte ich sie über das ohrenbetäubende Babygebrüll hinweg, dass mein Kind die Flasche bekam. Ihr vernichtender Blick daraufhin hätte eh schon alles gesagt, sie fühlte sich aber noch bemüßigt, mir zu erklären: „Und da warten Sie immer bis zum letzten Abdruck mit dem Flascherl, oder was? Das seh ich doch von hier, dass das Kind Hunger hat!“. Genervt aber höflich erklärte ich ihr, dass das vermeintlich hungrige Kind gerade vor 15 Minuten eine extra große Portion Milch verdrückt hatte.
„Dann ist ihm kalt, kein Wunder, Sie stehen da einfach so im Schatten, das Kind erfriert ja!“. Ich wischte mir bei den 29°C Außentemperatur, die es an dem Tag hatte, den Schweiß von der Stirn und bedankte mich für ihre äußerst hilfreichen Tipps, ich käme jedoch alleine zurecht. Doch die alte Dame ließ sich dadurch keineswegs aus dem Konzept bringen. Am liebsten hätte sie Flasche, Haube und Decke selbst aus meiner Wickeltasche gekramt und mir das Baby aus der Hand gerissen, denn für sicher 10 Minuten rückte sie mir immer näher auf die Pelle und palaverte mir ununterbrochen ins Ohr: „Also, das glaub ich jetzt nicht, jetzt machen Sie doch was! Geben Sie ihm endlich die Flasche! Oder ein Hauberl auf, der friert doch! Ich hab selber zwei Enkel, ich kenn mich aus! Das arme Kind!“.
Mein Stresslevel war inzwischen auf Everest-Höhe angestiegen und mir dampfte bestimmt schon der Rauch aus den Ohren, während Nico aus Leibeskräften brüllte und Noah daneben einen Trotzanfall bekam, weil ich ihn nicht auf die Schaukel heben wollte. Und irgendwann geigte ich der alten Fuchtel dann die Meinung – mit größter Selbstdisziplin sogar immer noch halbwegs höflich, obwohl ich in Wirklichkeit am liebsten ihr kläffendes Schoßhündchen in weitem Bogen über das Fußballtor gekickt und ihr entgegen geschrien hätte, dass sie das alles verdammt nochmal einen feuchten Dreck angeht. Kopfschüttelnd trollte sich der alte Troll schließlich und murmelte im Weggehen irgendetwas über die Jugend von heute in sich hinein.
Ich habe mittlerweile aufgehört, mich zu fragen, warum solche Leute immer wieder das dringende Bedürfnis verspüren, mir ungefragt ihre Weisheiten aufzuzwängen. Was mich aber wirklich nervt, ist, dass sie von ihrer Meinung auch immer dermaßen felsenfest überzeugt sind, ohne dabei auch nur irgendetwas über uns zu wissen.
Scheinbar ist das Thema Kinderkriegen das einzige Thema, bei dem es gesellschaftlich vollkommen in Ordnung ist, andere bei jeder Gelegenheit zu belehren und ihnen die einzig wahre Wahrheit aufzunötigen. Dass das bereits in der Schwangerschaft anfängt, sollte einen eigentlich schon darauf vorbereiten. „Waaaas, du isst eine Pizza mit Salami?! Oh Gott, dein Kind wird sterben!“, „Waaaas, du machst kein Schwangerschafts-Yoga?!“, „Wie bitte, du trinkst KAFFEE??!!“ – begleitet immer von hilfreichen Experten-Kommentaren dazu, wie groß/klein/dick/tief/spitz dein Bauch denn schon in diesem Monat sei.
Hallo!? Ich mach doch auch nicht mit aufgeblasenen Backen Uff-Geräusche, wenn es meinem Kollegen nach den Weihnachtsfressattacken fast den Hosenknopf vom Bund sprengt?!
Viel schlimmer wird es aber, wenn das Kind erst mal auf der Welt ist und alle anderen alles besser wissen als du selbst. Die Nachbarin deiner Tante wird vom ersten Tag an wissen, warum dein Kind nicht durchschläft, die Putzfrau deiner Kollegin wird den Kopf schütteln, weil du noch immer nicht genau das Tragetuch gekauft hast, dass sie dir empfohlen hat und die Kindergärtnerin deiner Nichte wird nah daran sein, das Jugendamt zu rufen, weil du deinem Kind die falsche Schnullermarke gekauft hast. Das Schlimme daran ist, dass man sich besonders als Erstlings-Mama noch leicht verunsichern lässt und sich bei so saublöder Kritik auch noch verunsichern lässt – und das leider ganz besonders bei Entscheidungen, die man sich ohnehin schon nicht leicht gemacht hat.
Ich kann die Mamas im Freundeskreis nicht mehr an einer Hand abzählen, die ernstlich verletzt waren, weil ihnen andere Mütter mit der Inbrunst der Unfehlbarkeit mitteilten, dass sie ihren Kindern etwas Schreckliches antäten, weil sie bereits mit einem Jahr in die Krabbelgruppe „mussten“. Dass mindestens genauso viele Leute mir die Hölle heiß machten, weil ich mein Kind noch NICHT mit einem Jahr in die Krabbelgruppe gab, weil ich ihm so die wichtigsten sozialen Kontakte seines Lebens verwehrte, sei jetzt mal dahingestellt… Wie man’s macht, macht man es offensichtlich falsch.
Und nachdem man es ja eh nie richtig machen kann, sollte man sich einfach auf das verlassen, was einem Herz und Verstand sagen. Jede Mama, jedes Kind und jede Situation ist unterschiedlich und keiner sollte sich ungefragt eine Meinung darüber anmaßen, was für andere das Beste ist. Stattdessen sollten wir alle wieder ein bisschen mehr auf unser Mama-Bauchgefühl vertrauen und statt uns gegenseitig das Leben schwer zu machen, ein bisschen mehr als Mütter zusammenhalten. Schließlich verstehen auch nur andere Mamas, was es heißt, so ein kleines Würmchen auf die Welt zu bringen und es mit allen Jubelmomenten und Katastrophen großzuziehen. Also liebe Besserwisser-Mütter: Behaltet eure ungefragten Tipps doch bitte einfach für euch und redet sie in ein Plastiksackerl. Oder schreibt sie in ein Buch – dann kriegt ihr am Ende vielleicht doch noch das große Taschenlexikon der Babyfragen zusammen und werdet der Bestseller Nr. 1 auf Amazon.
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