Mittwoch, 21. Oktober 2015

Der sechste Sinn

Ich bin der festen Überzeugung, dass Kinder einen sechsten Sinn haben. Durch feinste, übernatürliche Antennen können sie jede Situation in Sekundenschnelle, oft sogar im Schlaf, ausloten und blitzschnell so darauf reagieren, dass für die armen Eltern der größtmögliche Nachteil entsteht.

Ich unterstelle den kleinen Zwergen dabei (meistens) keine böse Absicht, wahrscheinlich sind sie nur einfach biologisch darauf gepeilt, zu jedem Zeitpunkt die absolute, ungeteilte, 150%ige Aufmerksamkeit ihrer Eltern für sich zu beanspruchen. Sehen sie diese auch nur für einen Sekundenbruchteil von ihnen abwandern, reagieren die kleinen Sonnenkönige einfach prompt und stellen so die natürliche Ordnung ihrer kleinen Welt wieder her. Wo hier die Musik spielt, sagen schließlich immer noch sie, das wär ja noch schöner!

Anders kann ich es mir nicht erklären, dass Noah von Anfang an ein Meister im schlechten Timing war. „Schlecht“ bezieht sich in diesem Fall natürlich nur auf meine Sicht der Dinge, für ihn war das Timing wohl immer mehr als perfekt.

Anfangs fiel mir Noahs Talent zur Situationstorpedierung nur schleichend auf. Erst als sich am Esstisch, auf der Küchenanrichte, am Couchtisch, am Terrassentisch, am Fernsehbord, am Bücherregal, kurz gesagt so ziemlich auf jeder Abstellfläche im ganzen Haus, die Kaffeetassen stapelten, wurde mir klar, dass Noah gerade seinen eigenen Running Gag mit mir orchestrierte. Gerade in den ersten Monaten, als ich mir vor lauter Schlafmangel den Kaffee am liebsten intravenös gespritzt hätte, fing er ausnahmslos jedes Mal, wenn ich mir gerade eine frische, dampfende, duftende Tasse gemacht hatte, zu brüllen an.

Statt des ersten kostbaren Schusses Koffein also: Tasse auf der nächstbesten Ablagefläche abgestellt, zum Kind geeilt, Kaffee erst Stunden später kalt und schlierig wahlweise auf der Stereoanlage, am Nachttisch oder am Drucker wiedergefunden.

Kaum hatte Noah sein Talent erkannt, begann er sofort, es auf Profi-Niveau auszubauen. Sobald ich auch nur ansatzweise versuchte, mir statt der zerdrückten Schachtel Schokokekse zur Abwechslung mal die erste Gabel eines warmes Mittagessens in den Mund zu schieben, für drei Sekunden unter die Dusche zu hüpfen oder – Gott bewahre – kurz ein paar Minuten von „Germany’s Next Top Model“ zu erhaschen, erinnerte er mich lautstark daran, dass ich doch bitteschön meine Prioritäten schnellstens überdenken möge.

Also wieder: Mit eingeseiftem Kopf und Keks in der Hand Heidi Klum links liegen gelassen und zum Herrn des Hauses gesprintet. Ja, ich höre sie schon, die „Ein Kind muss man auch mal kurz schreien lassen!“-Zeigefingerschwinger.

Aber ganz ehrlich: Hattest du in den ersten Wochen diese Gelassenheit? Ich zumindest war weit davon entfernt, mir noch genüsslich ein Schaumbad einzulassen, während mein Sohn vor lauter Protest gerade mit seinem Gebrüll die Schallmauer durchbrach.

Außerdem hatte Noah ja nicht nur sein Lungenvolumen in der großen Baby-Trickkiste, sondern arbeitete zusätzlich mit vielen weiteren kleinen, perfiden Situationsbomben. So konnte ich zum Beispiel jedes Geld der Welt darauf verwetten, dass Noah an den zugegeben wenigen Tagen, die man in der Karenz wirklich pünktlich irgendwo sein musste, alles dafür tun würde, uns mit mindestens 10 Minuten Verspätung aus dem Haus zu bringen.

Für mich war das insofern eine völlig neue Erfahrung, da ich vor der Geburt meines Kindes ein krankhaft pünktlicher Mensch war. Ich weiß, ziemlich uncool, aber was will man machen! Mit Noah hatte ich jedoch plötzlich überhaupt kein Problem mehr damit, der letzte Stargast auf einer Party zu sein (dieses Beispiel ist rein theoretisch, für Partys war ich natürlich viel zu müde) oder mir wieder mal den letzten Parkplatz beim Kinderarzt wegschnappen zu lassen.

Kaum hatte ich nämlich Noahs sieben(hundert) Sachen verstaut, es geschafft, mich zumindest vollständig, wenn auch nicht fleckenfrei, zu bekleiden und den Autoschlüssel im Sandeimerchen zu finden, stieg mir wie das Amen im Gebet auf den letzten Metern zur Autotür ein untrüglicher Geruch in die Nase – wie sollte es auch anders sein, Noah hatte völlig unbeeindruckt von Mamas Stress, noch rechtzeitig zum Impftermin zu kommen, gepflegt einen in die Windel gesetzt… Also alles wieder rückwärts, Kind frisch gewickelt, neu angezogen und unter den bösen Blicken der Sprechstundenhilfe wieder mal zu spät beim Onkel Doktor eingelaufen.

Ebenfalls sehr beliebt war auch Noahs Kunststück „Schlaflos in PuchUrstein“, bei dem er ausnahmslos immer die Nacht zum Tag machte, wenn es für uns am Blödesten war. Der kleine Knilch konnte die gesamte Woche selig durchschlummern, doch kaum bekam er durch seine übersinnlichen Baby-Antennen Wind davon, dass Mama und Papa morgen mal zur Abwechslung beide arbeiten gehen mussten, schaltete er auf Party-Nacht-Programm. Da halfen keine Gute-Nacht-Gebete und kein hingebungsvoller Regentanz zum großen Baby-Gott: Kaum hatte man den Gedanken „Hoffentlich schläft er heute halbwegs, morgen hab ich doch gleich um 08.00 Uhr diesen unglaublich wichtigen Termin!“ auch nur halb durch seine Gehirnwindungen gelassen, saß man auch schon stündlich mit drei Schnullern bewaffnet an Juniors Gitterbett und versuchte ihn vergeblich davon zu überzeugen, dass jetzt sicher nicht die beste Zeit war, mit dem gelben Kipplaster zu spielen.

Während man selbst dann um 08.00 Uhr (bzw. 08.20 Uhr, vergessen wir nicht die vollgekackte Windel!) also mit Augenringen wie ein Gothic-Zombie seine Geschäftskollegen erschreckte und sich nur fragte, wie man den Tag überstehen sollte, ohne komatös mit dem Kopf voran in den Kopierer zu kippen, schlief Noah zu Hause bei Oma den ganzen Vormittag selig vor sich hin, damit er nachts auch wieder richtig schön fit für Mama und Papa war.

Mittlerweile habe ich mehr oder weniger aufgehört, mir überhaupt zu wünschen, dass Noah eine bestimmte Sache jetzt doch bitte unbedingt/auf keinen Fall machen soll. Denn sobald ich auch nur denke „Hoffentlich kotzt er jetzt nicht, ich bin doch schon fürs Vorstellungsgespräch angezogen“ oder mir wünsche, dass er sich doch nicht gerade jetzt auf der Stiege umdrehen möge, weil mein Go-Go-Gadgeto-Arm ihn leider unmöglich erreichen kann, bevor sein kleiner Sturkopf mit dem Wohnzimmerboden kollidiert, ist genau das auch schon passiert. Wir müssen es einfach einsehen: Mit ihrem sechsten Babysinn sind uns die kleinen Diktatoren einfach haushoch überlegen. Das ist, als müsste man einem Schachcomputer die Windeln wechseln. Oder so.

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