Sonntag, 20. November 2016

Tschüss, Trommelfell!

Ich würde nicht so weit gehen, mich als kompletten Einsiedlerkrebs zu bezeichnen, aber ja: Ich hab gern meine heilige Ruhe. Wenn ich nach Hause komme, mag ich es still, gemütlich und heimelig.

Dass sich das mit einem quäkenden Baby wahrscheinlich ein bisschen ändern würde, war mir durchaus auch vor Noah schon bewusst. Nur: Dass zwischen Quäken und Brüllen ein großer Unterschied liegt, und zwischen „ein bisschen“ und „absolut total“ noch ein viel größerer, darauf war ich nicht vorbereitet.

Noah war bestimmt kein Schreibaby (und ganz ehrlich, ich finde, dass jede Frau mit Schreibaby ein besonderes Ehrenabzeichen verliehen bekommen sollte!), aber er brüllte die ersten Monate seines kleinen Lebens doch ziemlich viel. Ziemlich sehr viel. Ziemlich unerträglich, unglaublich, unfassbar, Trommelfell-zerfetzend viel.

Die ersten drei Wochen wiegte der kleine Wicht uns gemeinerweise noch in Sicherheit und ließ uns glauben, dass wir das bravste Kind der Welt geschenkt bekommen hätten. Schlag Woche 4 verwandelte sich das kleine, meist schlafende Bündel jedoch in ein kleines, meist brüllendes Bündel – und das für uns ohne ersichtlichen Grund.

Plötzlich schrie sich das winzige Zwerglein stundenlang am Tag die Seele aus dem Leib. Es lief rot an, bekam vor lauter Brüllen oft kaum mehr Luft und hörte nur auf, wenn es sich vor lauter Erschöpfung nur noch in den Schlaf retten konnte. Natürlich waren wir in erster Linie von dieser neuen Entwicklung besorgt. Was machten wir falsch? Waren wir schlechte Eltern? Verstanden wir nicht, was unser Kind uns sagen wollte? Wo war der Aus-Schalter?!

Wir googelten Stunde um Stunde, befragten unsere Mütter, Tanten und Freunde und wälzten dicke Babybücher, um die Lösung für Noahs plötzliche Stimmungsschwankungen zu finden. Keine der Antworten half uns jedoch wirklich weiter. Die einen tippten auf Blähungen, die anderen auf die Zähne, die dritten auf einen Wachstumsschub – doch egal was wir probierten, keines dieser Probleme schien wirklich der Grund zu sein. Vom Kirschkernkissen bis zum Fliegergriff, vom Kümmelwasser bis zu Globuli, vom Zahnungsgel bis zur Babymassage – wir versuchten alles, und alles ohne Wirkung.

Dem wahren Grund der Schreiattacken kam wohl ein lieber Freund am Nächsten, der mir am Telefon ganz lapidar folgende Erklärung präsentierte: „Susi, jetzt stell dir mal vor, wie’s dir geht, wenn du einen richtigen Kater hast. Da bist du auch einfach nur grantig, und alles tut weh und nix passt und es kann dir auch keiner helfen, egal was er tut. Und genauso geht’s dem Noah jetzt mit der Welt!“

Diese Erklärung konnte ich zwar noch am ehesten nachvollziehen, nur leider halfen bei Baby-Weltschmerz-Kater weder Aspirin noch Rollmops und wir mussten da offensichtlich irgendwie einfach durch. Nur ist „einfach irgendwie durch“ in diesem Fall leichter gesagt als getan. Noah schrie oft Stunden am Stück, ohne Unterbrechung oder merkliche Lautstärke-Abschwächung. Und auch wenn einem das kleine Äffchen in erster Linie einfach nur leid tat, war mit dem Mitleid nach mehreren Stunden irgendwann einfach Schluss. Stundenlanges Babygeschrei ist meiner Meinung nach eines der effektivsten Foltermittel, die es neben Schlafentzug (komisch, ein weiterer Umstand der meistens mit dem Kinderkriegen einhergeht!) gibt.

Ich weiß nicht, ob es biologische Gründe hat, aber das Schreien meines Kindes löst in mir nahezu körperliche Schmerzen aus. Ich habe das unbedingte Bedürfnis, sofort zu ihm hinzustürmen, es in den Arm zu nehmen und es irgendwie zu beruhigen. Nur leider war genau das etwas, das Noah offensichtlich in diesem Moment genau am wenigsten brauchen konnte. Oft hatte ich das Gefühl, je enger ich ihn an mich kuschelte, je beruhigender ich auf ihn einredete, je mehr ich ihn durchs Haus trug, um so lauter begann er zu brüllen. Nur: Irgendwas MUSSTE ich einfach machen, ich hielt es sonst nicht aus, es sprengte mir den Kopf, ich wurde wahnsinnig, ich musste selbst schreiend aus dem Haus laufen..!!!

Das Einzige, was uns übrig blieb, war jedoch, uns irgendwie selbst tot zu stellen und Noah einfach weiter durchs Haus zu schunkeln. Trepp auf, Trepp ab, stundenlang im Kreis trugen wir das brüllende Kind, wir stellten uns den Wecker und wechselten uns beim Tragen ab, bevor einer von uns sich vom Balkon stürzte oder Noah kopfüber am Tierfreunde-Mobile aufhängte. Denn ja: Das Mitleid hält nicht ewig. Aus „Du tust mir so leid“ wird ziemlich schnell „Jetzt könntest du aber wirklich mal aufhören!“ und nach „Das kann’s doch jetzt aber wirklich nicht sein, jetzt probieren wir noch das und das!“ schließlich und endlich ein verzweifeltes „WAS WILLST DU EIGENTLICH?!!!“

Mehr als ein Mal sind mir nach stundenlangem Gebrülle selbst die Tränen wie Sturzbäche von den Wangen geronnen und ich dachte mir nur: Warum hab ich mir das bloß angetan?! Beide Hände reichen nicht aus, um die Male abzuzählen, an denen ich Noah am liebsten mit einer Rakete zum Mond geschossen oder bei der nächsten Tankstelle ausgesetzt hätte.

Ich weiß bis heute nicht so ganz wie, aber irgendwie haben wir es trotzdem durchgehalten. Langsam kamen wir auf einige Hilfsmittel, die den kleinen Schreiprinz zumindest zeitweise ein bisschen beruhigten und egal wie blöd sie waren, wir nahmen sie dankbar an. So fönte ich Noah oft eine halbe Stunde am Stück sein wallendes Haar oder trug ihn in einem seltsamen Wippschritt die Stiegen rauf und runter, während ich dabei laut „Schhhhh, schhhhh, schhhhh“ machte. Der Wippschritt ging mir sogar so in Fleisch und Blut über, dass ich mich eines Tages beschämt im Einkaufszentrum dabei ertappte, wie ich (ohne Kind!) zu hopsen begann…

Wenigstens hatte ich mich jedoch an den lebenswichtigen Tipp einer Freundin gehalten, die mir während der Schwangerschaft gepredigt hatte: „Fang dir zum Beruhigen bloß nichts an, das du nicht mehrere Stunden durchhalten kannst!“ So blieb es mir zumindest erspart, dass ich wie andere Mamas stundenlang den Maxi Cosi einarmig auf- und abstemmen, das Baby mit ausgestreckten Armen aufrecht hoch- und runterfahren oder andere Gewichtheber-Übungen machten musste. Das Schlimmste war noch, dass ich im überfüllten Wartezimmer laut „Auf einem Baum ein Kuckuck“ singen musste, weil Noah sich sonst nicht mehr beruhigt hätte.

Dass wir in der Öffentlichkeit nicht mehr solche Dramen hatten, lag allerdings schlicht und einfach daran, dass ich mich irgendwann kaum mehr in die Öffentlichkeit traute. Sicher ging ich mit Noah täglich spazieren oder besuchte mal die Großeltern, aber zu einem großen Teil machte uns Noahs Brüllerei für mehrere Monate zu Eremiten. Ich vermied alle Treffen, bei denen ich mich für sein Geschrei geschämt hätte und machte einen großen Bogen um Kaffeehäuser, Geschäfte und überfüllte Fußgängerzonen.

Schlimm genug fand ich es schon, wenn sich beim Spazierengehen eine emsige alte Oma bemüßigt fühlte, mitten am Weg stehen zu bleiben und ungläubig den Kopf zu schütteln, wenn ich mit dem alle Dezibel-Grenzen sprengenden Noah im Kinderwagen vorbeijoggte. „Hast du noch nie ein schreiendes Kind gesehen, oder was?!“, wollte ich solchen „mitfühlenden“ Passanten dann oft entgegenbrüllen – nur leider hätte man das bei der Lautstärke von Noahs Geheul ohnehin nicht gehört…

Eine Patentlösung gegen Babygebrüll habe ich leider bis heute nicht gefunden. Mit beinahe einem Jahr ließ Noah sich dann irgendwann schlicht und einfach besser ablenken. Wenn er mit 4 Monaten zu schreien anfing, hieß das, dass er das unweigerlich auch für die nächsten Stunden durchziehen würde, komme was wolle. Später ließ er sich dabei gern schon mal von einem lustigen Playmobil-Männchen (pädagogisch wertvoll), einem Krümel Kuchen (pädagogisch bedenklich) oder meinem Handy (pädagogisch schwer daneben) ablenken.

Heute können wir also auch getrost wieder das Haus verlassen, zumindest wenn Noah keinen Psycho-Baby-Tag hat. Vergessen werde ich diese Stunden allerdings in meinem ganzen Leben nicht mehr, in denen die Wände vor gellendem, bitterlichem Babygeschrei bebten und mir schier das Hirn zu zerfetzen schienen. Den einzigen Tipp, den ich also anderen Mamas für solche Schreiattacken geben kann, ist folgender: Man muss lernen, es auszuhalten. Das ist vielleicht das Schwierigste, was man je im Leben lernen muss, aber zumindest hat man danach ein Trommelfell aus Stahl, wozu das auch immer gut sein mag...

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